Ende Fahnenstange

In meiner Küche hängt ein neues Bild. Ein Freund hat es gemalt – in der Linkliste zur Rechten mache ich Werbung für ihn und auch in diesem Satz. Er wuchs in Afrika auf, und obwohl er wie ein blasser, sommersprossiger, rothaariger Mitteleuropäer aussieht, ist er im Herzen Afrikaner. Er lernte, sich wie ein Europäer zu benehmen als er schon Teen-Ager war, und damals lernte ich ihn auch kennen. Menschen, die wie er aufgewachsen sind, bezeichnet man auch als Third Culture Kid oder Drittkultur-Kind.

End of the LineNeben anderen Beschäftigungen malt er schöne Bilder. Dasjenige, was ich gekauft habe, heisst End of the Line, oder “Ende Fahnenstange” auf Deutsch. Als ich es vor einigen Monaten kaufte, hielt ich es einfach für ein schönes Bild, mit den violetten Schatten und den Pop-Artigen Umrissen, und ich fand den Titel eingängig.

Seither habe ich über den Verlauf der Freiheitsentdeckung, des Befreitwerdens nachgedacht, wodurch der Titel des Bildes an Bedeutung gewonnen hat. Software-Freiheit, beispielsweise: das ist eine Äusserung der Freiheit, die mir seit Jahrzehnten wichtig ist. Ich kann mich gut an den Tag erinnern, als ich den tief empfundenen Wunsch nach Software-Freiheit zum ersten mal verspürte: ich hatte fürs Studium ein Programm geschrieben, in einer unfreien Version einer Programmiersprache, die sehr nützliche Bibliotheken zur Datenanalyse hatte. Alles funktionierte ganz prima, aber als ich so meine Arbeit schrieb, wollte ich die Analyse mit einem weiteren Satz Parameter ausprobieren. Ich hatte damals einen für die Zeit ziemlich leistungsfähigen Computer in meiner Wohnung, und das Programm hatte ich auch auf einer Floppy (das Jahr war 1993, und Internetanschlüsse in der Schweiz waren noch nicht weit verbreitet) – doch obwohl ich eine Version der Programmiersprache für meinen Computer hatte, gab es diese Numerik-Bibliothek nicht dafür, und ich konnte das Programm nicht bei mir laufen lassen. Ich musste zurück an die Uni um die Berechnungen zu machen, und fand, dass es einfach nur blöd sei, dass ich dazu gezwungen war. Ich war auf eine Einschränkung der Freiheit, Software weiterzuverbreiten gestossen, die mir sehr geholfen hätte. Das war eine End of the Line Situation, ich hatte keinen Sprit mehr sozusagen. Ich konnte die Freiheit jedoch von dem Ort aus sehen, an dem ich mich befand.

Auf Einschränkungen zu stossen – Ende Fahnenstange zu erreichen – kann auch auf die folgende Weise zur Entdeckung von Freiheit führen: im mentalen Training der Meditation. Es gibt jede Menge Techniken und Traditionen rund um die Meditation, ganze Religionen sogar, was ich aber damit in diesem Beitrag meine ist: sich für eine Stunde pro Tag hinzusetzen, einem einzigen Phänomen die Aufmerksamkeit zu schenken, und dabei alles Andere auszuschliessen. Dieses einzelne Phänomen kann irgend etwas sein, traditionelle Anleitungen beinhalten das Gefühl der Atemluft an den Nasenlöchern, oder die geistige Wiederholung eines Wortes oder einer kurzen Phrase, als für Anfänger geeignet. Wenn Du damit anfängst, wirst Du sehr bald auf bestimmte Einschränkungen Deiner Fähigkeit stossen, Dich für längere Zeit ganz einem einzigen Phänomen zu widmen: Erinnerungen tauchen auf; der Körper sendet Signale, die auf Unbequeme Sitzhaltung hinweisen und so weiter. Diese Ablenkungen werden ziemlich autonom erscheinen, und können in einer Erfahrung der Klasse Ende Fahnenstange gipfeln: “Ich halte das nicht mehr aus und werde jetzt aufstehen”. Dies ist ein Hinweis darauf, dass hier die Freiheit, zu tun was man will, eingeschränkt ist (in diesem Fall, eine Stunde lang zu meditieren).

Die eigenen Grenzen zu finden kann, paradoxerweise, eine sehr befreiende Erfahrung sein. Man kann die Freiheit vom Ende der Fahnenstange aus sehen. Sie ist das leere Benzinfass mit dem roten Stern drauf, oder das Gebiet jenseits des Elefantengrases und der Landstrasse, mit der Hügelkette im Hintergrund, oder vielleicht, eine Zigarette zu rauchen. Wichtig ist, zu kapieren, dass die Freiheit existiert, und dass es bloss erforderlich ist, sie zu betreten. Dabei ist es ganz egal, ob es sich um Freie Software oder um spirituelle Freiheitsbegriffe.