rainer’s blog

Just another Fellow’s opinion…

Sommertournee 2015 – Anreise zur RMLL

July 30th, 2015

Es war viel zu heiss. Donnerstag spätabends war im FSFE-Büro Düsseldorf alles für den FSFE-Stand auf der RMLL verladebereit. Pavillon, Standmöbel, Plakate, Infomaterial, Fan-Artikel, alle Technik und Krempel drumherum und so ganz nebenbei auch noch das eigene Gepäck für mehrere Wochen.

Den Freitag bei 35 Grad plus x auf der Autobahn zu verbringen, erschien mir unangemessen. Nungut, die Ente samt Anhänger geholt, alles verladen — und ganz spontan um Mitternacht losgefahren. Die Fahrt verlief völlig unspektakulär. In Belgien nochmal getankt, in Nordfrankreich den Sonnenaufgang genossen, und gegen 08:00 in Beauvais angekommen. Ich wurde einfach nicht müde. Fein.

Beauvais ist übersichtlich — eigentlich. Ich hatte Buchungsbestätigungen für Zimmer in Studentenwohnheimen für cryptie, Marius und mich. Leider kannte niemand diese Strasse. Ich fuhr zur Uni. Etliche Putzfrauen, Hausmeister und Techniker liefen herum. Ich sprach eine Frau an, und bat um eine Wegbeschreibung.

Sie nahm die Buchungsbestätigung und studierte sie gründlich. Dann stellte sie eine Frage, in der “RMLL” vorkam. Ich sagte “Oui, RMLL!” Das half ihr aber auch nicht. Sie frage präziser, ob das Material, welches ich geladen hätte, für die RMLL sei. Auch wenn mir der Sinn der Frage verborgen blieb, konnte ich dies wahrheitsgemäss bestätigen. Ich möge ihr folgen. Sie ging zu ein paar Kollegen. Alle vertieften sich in die Papiere und diskutierten ausgiebig.

Dann fragten sie nach meinem LKW. Ich hielt das für einen Witz und erzählte von einem Motorwagen (2CV) mit einer to und einem Anhänger mit einer halben to. Sie lachten aber nicht, sondern guckten immer noch ratlos.

Ein Hausmeister nahm sich der Sache an und führte mich quer durch das Gebäude, durch eine Grossküche, durch ein Lager, zu einem Hinterhof mit Rampe und Stapler und allem. Ob das so ok sei? Jetzt war es an mir, ziemlich dumm zu gucken. Das war mit hinreichender Sicherheit kein Zimmer in einem Studentenwohnheim.

Ein englischsprachiger Koch erschien und klärte die Sache auf. Da auf den Reservierungsbestätigungen nirgendwo stand, dass es solche seien, wurden die Papiere als Lieferscheine von der RMLL-Orga an die Uni missverstanden. Die guten Leute überlegten die ganze Zeit, wo ich meinen LKW abladen könne. In den drei genannten Studentenwohnheimen ginge das nicht wegen fehlender Rampen.

Wir lachten alle herzlich, und ich bekam endlich die Wegbeschreibung zum “Ressort Kennedy”. Ich möge da und da lang und dann der Beschilderung “Parc Kennedy” folgen. Das klappte auch prima. In einer Ecke des sehr schönen Parks sah ich eine Gärtnerei, da liefen auch Leute rum. Ein Studentenwohnheim sah ich nicht. Also fragte ich mal wieder. “Ressort Kennedy” war bekannt. Es war ein Gebäude weiter hinten, jenseits eines massiven Zauns.

Ich unterstellte, ich müsse das Gelände verlassen, dreimal rechts abbiegen, dann käme ich doch – “Non!” Das seien alles Einbahnstrassen. Keine Chance. Ich müsse eher links, dann unter der Bahn durch… sie begannen zu diskutieren. Es dauerte. Kopfkratzen war die vorherrschende Geste. Irgendwann erklärte eine Frau alle für bekloppt (jedenfalls verstand ich sie so), zog ein Schlüsselbund hervor, und bedeutete mir, ich möge samt Ente und Anhänger folgen. Am Ende des Geländes schloss sie ein Tor auf, und schickte mich unmittelbar auf das Gelände des “Ressort Kennedy”.

Die Frauen, die das Wohnheim regierten, standen rauchend vor der Tür. Sie begrüssten mich sehr freundlich, studierten die Reservierung — und zogen die Augenbrauen hoch. Eine verschwand im Büro und holte eine Liste. Ich war nicht darauf. Nein, die FSFE auch nicht. Nein, Felline cryptie, die die Buchungen organisiert hatte, auch nicht.

Es war 09:00. Ich wurde immer noch nicht müde. Ich war auch nicht überrascht. Wer das Chaos bei der RMLL 2014 in Montpellier erlebt hat, den kann sowas nicht erschüttern. Während die Damen telefonierten, quälte ich den Kaffeeautomaten. Gegen 09:30 erschien der Präsident der Linux User Group der Region Oise persönlich und bestätigte, dass ich ein Zimmer bekäme. Er bat mich, um 14:00 zum Platz an der Kathedrale zu kommen, und beim Aufbau zu helfen.

Sieg. Schlaf. Nunja, wenigstens 3 Stunden. Wurde auch langsam Zeit.

Tschüss, Dieter!

November 20th, 2013

Für mich war er der grösste, der sprachgewaltigste Kabarettist der Nachkriegszeit, aktiv und unbeirrbar bis zuletzt. Er war ein respektvoller Mensch, dessen Pointen die Gürtellinie immer beachteten, aber “Respekt” hatte er vor niemandem, erst recht nicht vor denen, die meinten, uns und unsere Demokratie vor ihm schützen zu müssen.

Pures Meckern, und sei es noch so lustig verpackt, war ihm fremd. Pispers und Schramm mögen viel von ihm gelernt haben. Aber Pispers predigt nur, Schramm wettert ins Gewissen. Angemessen, unterhaltsam, inhaltlich treffend. Kabarett war früher mal mehr.

Hüsch, Drechsel, Neuss, die Lorenzens, all’ die Granden des Nachkriegskabarett mit ihrem reichhaltigen Vorrat an Stilmitteln sind schon gegangen. Hildebrandt war der letzte in dieser Spielklasse.

Unvergessen, wie Hildebrandt bei “Schimpf vor Zwölf” zu Silvester 10 min vor Mitternacht ein Solo begann und 20 Minuten dermassen textdicht improvisierte, dass der Techniker in der Sendezentrale schlicht vergass, kurz vor Mitternacht zu Uhr und Raketen überzublenden. Dieter hatte den Jahreswechsel überredet — in den wahrsten Sinnen der Worte.

Als Teenager hockte ich mit einem Mikrofon in der Hand vor dem Fernseher und lebte in dem Irrglauben, “Schimpf vor Zwölf” auf ewig auf Kassette archiviert zu haben. Viel später erst lernte ich die Vergänglichkeit aller Speichermedien kennen. Nunja. “Wenn wir uns nicht über die eigene Vergänglichkeit hinwegsetzen können, machen wir uns wenigstens darüber lustig.” (Dieter Hildebrandt)

Meine ersten publizierten Texte waren Glossen in der Schülerzeitung — natürlich von Hildebrandt inspiriert. Ich glaube, nur Rudolf Augstein hat mein Verhältnis zur deutschen Sprache mehr geprägt als Hildebrandt. Ich bin beiden dankbar dafür.

Er wurde zu der Zeit berühmt, in der der Journalismus als “Sturmgeschütz der Demokratie” oder “Vierte Gewalt im Staate” betitelt wurde. Meistens war dies auf den “Spiegel” gerichtet, der damals ein investigatives, unabhängiges Nachrichtenmagazin war und solche Orden zu recht trug. Die Lach- und Schiessgesellschaft mit Hildebrandt, mitten in München, dem ewigen Hauptquartier der Demokratieförderung und selbstloser Unterstützung der Wirtschaft, war mindestens die “Fünfte Gewalt”.

Dieter riss der Macht nicht die Maske herunter. Er zwang sie zur Selbstentblössung. Lebenslang sammelte er seine Trophäen — die Liste derer, die ihn als “Staatsfeind”, als “politischen Giftmischer” (Franz-Josef Strauss) bezeichneten, seine Werke als “nicht gemeinschaftsverträglich” (vulgo: “nicht sendereif”, Bayrischer Rundfunk) bezeichneten. Christian Schwarz-Schilling glaubte, in “übler, journalistisch unqualifizierter Weise” dargestellt worden zu sein. Hildebrandt nahm interessiert zur Kenntnis, nun doch Journalist zu sein.

Er behauptete nie, der Rhein-Main-Donau-Kanal sei ein Korruptionsprojekt. Nein, das sagte er nicht. So jedenfalls nicht. Heute wissen wir alle, dass… er recht hatte.

Er bewirkte viel durch das, was er so gerade eben dann… doch nicht sagte. Das dergestalt herausgeforderte Publikum musste die verstotterten, abgebrochenen Sätze selbst zuende denken. In meiner Phantasie sassen vor Wut schäumende Anwälte in der bayrischen Staatskanzlei und schwiegen in ihre Diktiergeräte.

Das kabarettistische Stilmittel, den Inhalt ins Weggelassene zu verlagern, wurde im dritten Reich und in der DDR entwickelt und gepflegt. Hildebrandt entwickelte sie in der BRD weiter — in einem Staat, von dem man dachte, sowas sei nicht mehr nötig. Die Reaktionen beweisen das Gegenteil.

1978 gab es eine Dienstanweisung im Bayrischen Rundfunk, der Redaktion der “Notizen aus der Provinz” kein dokumentarisches Material mehr zur Verfügung zu stellen. Mächtige ärgert man nunmal am Besten mit ihren eigenen Zitaten. (Nebenbei: Das funktioniert heute noch. Die Fellowship Düsseldorf hat das neulich mit einem Bundestagsabgeordneten sehr schön vorgeführt.)

Hildebrandt gab in den “Notizen” den Moderator. Er persiflierte die Politikmagazine des Fernsehens; offensichtlich zu gut. Das ZDF änderte den Untertitel von “Magazin” in “Satirische Randbemerkungen”. Man hatte Angst davor, die Zuschauer könnten die Sendungen ernstnehmen.

Auch das war seine Kunst: Andere in einer Weise zu karikieren, in der er seinen Opfern sogar vorführte, wie es besser geht. Auf den einschlägigen Videoplattformen liegt sein legendärer “Rentner-Rap”. Sprachlich, rhythmisch und im Vortrag ein astreiner Rap, die Rapper persiflierend.

Kann es einen grösseren kabarettistischen Erfolg geben, als den freistaatstragenden Bayrischen Rundfunk dazu zu bringen, sich aus dem laufenden ARD-Programm auszublenden? So widerfuhr es den “Notizen” 1980. Begründung: Unbotmässigkeit. Thema: Tschernobyl. Programmdirektor Dieter Stolte wollte sich zum Intendanten des ZDF profilieren. Er verordnete der Sendung eine “Denkpause”. Hildebrandt ging nach Berlin und kurbelte beim SFB seinen “Scheibenwischer” an. Als Matthias Richling 2009 die Sendung durch mehr “Comedy” verflachen wollte, entzog ihm Hildebrandt die Namensrechte.

Ein legendäres Programm der “Lach und Schiess” von ca. 1973 jonglierte mit der Idee, Bayern könne sich vom Bund lossagen. Was würde passieren? Kurz zuvor hatte das CIA-unterstützte Militär in Chile geputscht. Auf der Bühne zog man Parallelen zwischen dem als Gefangenenlager missbrauchten Stadion in Santiago de Chile und dem Münchner Olympia-Stadion. Nein! Man behauptete nix! Vor allem nicht, dass die Gefahr bestünde, Strauss könne zum Diktator mutieren! Alles weitere passierte nur in unserer Phantasie. Sie war Hildebrandts beste Waffe.

Hatte er das Publikum überraschend zu einer längeren Denkpause ohne sichtbare Reaktion verdonnert, grinste er gerne. “Ja ich weiss, das dauert jetzt etwas.”

1986 bekannte Hildebrandt, nur deshalb nie in die SPD eingetreten zu sein, weil er “schnell wieder rausgeflogen wäre”. Das hinderte noch 2007 den “Vorwärts” nicht daran, ihn als altes Mitglied einzuordnen. Hildebrandt nahm es gelassen. Er wehrte sich nie gegen Beleidigungen. Er nahm sie als Originalton und Inspiration für sein Werk.

Zu seinem 75sten sagte er: “Ich lasse die anderen nicht in Ruhe.” Und so machte er es dann. Die ungebrochene Flut seiner Gedanken präsentierte er in “Lesungen”, das Buch griffbereit auf dem Tisch. “Ja, ich les ja gleich.” Es waren Solo-Programme, in ständiger Änderung begriffen, ihre satirische Grundhaltung stets von der Realität überrollt. “Ja, ich les ja gleich.” Er las nie. Er improvisierte. Über alles — ausser dem, was im Buch steht.

Er war der Bühnentyp, der konsequent weiterlebt, solange er die drei Stufen auf die Bühne schafft. Klappt das nicht mehr, wird es knapp. Im Dezember wollte er sich in München auf der Bühne von seinem Publikum, von uns allen, verabschieden. Es kam leider anders.

Nirgendwo wurde sein Tod treffender kommentiert als auf den WWW-Seiten seines letzten Projektes, “Spiel, Satz und Sieg für Hildebrandt.

Mach et joot, Dieter! Un meld disch ma!

Kompetenz versus “Digitale Demenz”

August 5th, 2012

Ein bedeckter Sommersonntag. Eigentlich ein Tag, der gemütlich und ohne Zwischenfälle vorbeifliessen sollte.

Da holt WDR2 den Ulmer Psychiater Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer vors Mikrofon. Selbiger nutzt die Gelegenheit, das Credo seines neuesten Buches wiederzukäuen: “Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen”.

Unbestritten ist, dass die ausschliessliche Nutzung eines Navigationsgerätes zur Orientierung die Fähigkeit, Karten lesen zu können oder sich wenigstens grob nach der Sonne zu orientieren, verkümmern lässt. Natürlich sollten Eltern eingreifen, wenn Kinder zu viel am Rechner spielen.

Daraus destilliert Spitzer das medientaugliche Schlagwort der “digitalen Demenz”. Aus der Tatsache, dass all die netten Geräte, die wir heute benutzen, uns auf vielen Ebenen die Arbeit erleichtern sollen, schliesst er verkürzt, dass wir die Fähigkeit dazu verlören, diese Arbeit selbst zu verrichten. Mehr noch: “Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. (…) Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert.” (Quelle: Klappentext bei einem Buchhändler im WWW)

Spitzer warnt vor “Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängsten und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialem Abstieg”. Darunter macht er es nicht. Als Konsequenz empfiehlt er “Konsumbeschränkung”.

Nun warnt Spitzer schon seit Jahren vor allen Arten von Bildschirmen. Seine Werkliste wächst mit den Verkaufszahlen, die Preise auch.

Viele der geschilderten Symptome und ihre Folgen sind erforscht und publiziert. Das ist nichts Neues. Es erinnert an das Geschrei zur Einführung des Fernsehens. Auch hier wurde, speziell für Kinder und Jugendliche, der Untergang des Abendlandes prophezeit.

Spitzer lässt jedoch völlig ausser Acht, das jedes Werkzeug nur bei bestimmungsgemässer Bedienung seine Funktion erfüllen kann – mehr noch: Je technischer das Werkzeug, desto mehr ist der Nutzer auf die Schulung in seiner Bedienung angewiesen.

Als Schlüsselerlebnis zur fachgerechten Bedienung eines Hammers mag ein blauer Daumen reichen. Die Entfaltung der Kraft eines Autos auf der Autobahn ist ohne Führerschein nicht zu empfehlen. Zur Verabreichung von Sedativa in einer Psychiatrie wird schon mehr verlangt – ungefähr das, was Spitzer seinem Namen voranstellt.

Nun leben wir alle in der seltsamen Situation, dass einerseits Computer die komplexesten Geräte darstellen, die in der Geschichte der Menschheit produziert und an Privathaushalte verkauft werden, andererseits stellen die meisten Menschen den Anspruch, dass die Bedienung dieser Computer nicht komplizierter sein darf als die einer Kaffeemaschine.

Noch witziger: Genau die Dinge, die ein Computer wunderbar automatisieren könnte, werden gerne Klick für Klick von Hand erledigt (216 Urlaubsfotos bearbeiten und hochladen – wohin auch immer), andererseits wird exakt das, wofür menschliche Intelligenz eingesetzt werden sollte, automatisiert (“Kann ich das anklicken oder ist das gefährlich?”). Nunja, es wird versucht, zu automatisieren. Man kauft einen gelben Pappkarton voll Sicherheit für ein paar €…

Die seit Bestehen der Menschheit üblichen Multiplikatoren zur Vermittlung neuer Technik (Eltern, Lehrer, Handwerksmeister, Dozenten, etc.) versagen immer noch fast vollständig, wenn sie mit Dingen wie “Internet” oder “Computer” konfrontiert werden. Besonders Politiker blamieren sich gerne systematisch, wollen aber die Rahmenbedingungen diktieren. Was dabei rauskommt, ist vermutlich in Spitzers Sinne.

Hätte sich Spitzer auf dieser Ebene kluge Gedanken gemacht, läge die Empfehlung, sein Buch zu lesen, nahe. Er verzichtet darauf. Schlimmer: Er reduziert die Nutzung des Computers auf “Google, Facebook und Co”.

Wenn Spitzer zu diesem komplexen Problem nicht mehr einfällt als die Empfehlung zur quantitativen Beschränkung des Symptoms, bleibt nur zu hoffen, dass seine Dissertationen und seine Habilitation eine bessere Qualität aufweisen.

Was wir brauchen, ist die Vermittlung von Kompetenz durch kompetente Multiplikatoren. Kinder ahmen Erwachsene nach. Wenn sich für die Eltern die Nutzung des Internets auf 140-Zeichen-Nachrichten beschränkt, werden die Kinder von ihnen nicht der Fertigkeit zur Exegese erlernen.

Wo sich die (Volkshoch-)Schule auf Produktschulungen im Sinne des Marktführers beschränkt, wird nicht vermittelt werden können, was eine Tabellenkalkulation eigentlich ist und wie sie arbeitet.

Wer nicht merkt, was auf seinem Rechner passiert, und was er schon in die “Cloud” ausgelagert hat, wird nie verstehen, was Datenhaltung ist.

Wer an der Universität nur die Spitzersche Rezeption von Facebook hört, wird nie verstehen, dass das Internet mehr ist als das WWW.

Wer, wie Spitzer, die Nutzung des Netzes auf “Konsum” reduziert, wird nie lernen, dass im Netz die Grenzen zwischen “Konsum” und “Produktion” verschwimmen.

Wem als Kaufkriterium für digitale Geräte Design und angebissenes Obst wichtig sind, kann jungen Menschen niemals den Unterschied zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung erklären. Michael Stehmann formuliert drastischer: “Lerne programmieren oder werde programmiert.”

(Nebenbei: Wenn ich Google bemühen muss, um Michaels Blog hier zu finden, haben ganz andere Leute etwas ganz Anderes nicht verstanden. Nein, das interne Suchmaschinchen kennt ihn nicht.)

Wenn Eltern und Lehrer den falschen Eindruck, den die bunte Werbung der Mobilfunker vermittelt, man könne mit ihren Geräten und Tarifen ganz toll diesen und jenen Dienst nutzen (aber von mehr ist nie die Rede), nicht korrigieren können, dann dürfen sie nicht beschweren, dass die Kinder auch nur diese Dienste nutzen.

Solange die Kinder den Eltern “das Internet” zeigen, solange der zum Informatik-Unterricht verurteilte Lehrer seine Aufgabe dem begabtesten Schüler überlässt, dreht sich die Welt falschherum.

All dies und noch viel mehr ist Kindern vermittelbar, wenn man dies denn wollte. Ja, am Computer. Wichtiger ist, dass es endlich vermittelt werden muss. Sonst könnte Spitzer mit seinen Weltuntergangsszenarien Recht bekommen. Wir haben beim Medium Fernsehen gesehen, was passiert, wenn die Vermittlung von Medienkompetenz vernachlaessigt wird.

Dazu brauchen wir fähige Politiker und Lehrende. Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer brauchen wir nicht. Wer seinen populistischen Thesen zustimmt, steht erst am Anfang eines Lernprozesses. Er wird sich auf ewig mit Symptomen beschäftigen, aber die Ursachen nie verstehen.

Wem zum Thema Computer und Internet nicht mehr einfällt als “Wo muss ich jetzt klicken?”, dem werden Spitzers Bücher gut gefallen.

Da Spitzer nicht zum ersten Mal mit solchen Plattitüden auffällt, seien dem geneigten Leser einige Kritiken seines populistischen Wirkens empfohlen:

Liebe Neelie

January 3rd, 2012

Ich muss gestehen, dass ich seit Jahren ein Fan von Dir bin. Selten ist es jemandem gelungen, sich in der Brüsseler Schlangengrube bis auf den Posten eines Kommissars durchzuwühlen, ohne sein Rückgrat zu verbiegen.

Staunend beobachtete ich, wie die niederländische Auffassung von Freiheit und Bürgerrechten — in bester Tradition eines Erasmus von Rotterdam — den respektlosen Kampf gegen Bürokratie und Lobbyismus aufnahm. Du nahmst “Verbraucherschutz” wörtlich. Bei uns bedeutet es eher, die Firmen vor den Verbrauchern zu schützen.

Der Mobilfunkbranche deckeltest Du die freche Gewinnmaximierung bei internationalen Telefonaten, beim Datenverkehr willst Du gerade Gleiches tun. Deine hervorragende Rede zum Urheberrecht neulich wurde von der Politik ignoriert, fand aber im Netz grosse Beachtung und Zustimmung.

In den Niederungen deutscher Klientelpolitik und ihrer beratungsresistenten Funktionäre gelang es uns Netzbürgern immerhin, kräftig beim scheibchenweise inszenierten Abgang eines Paradebeispiels von Blendertum und Lügerei nachzuhelfen. Das erwischte Subjekt drehte und wandte sich, inszenierte sich im Parlament als überfordertes Opfer und spielte grosses Kino vor laufenden Kameras — es half nichts, er musste gehen. Vorher war noch der Doktorhut an der Garderobe abzugeben.

Schmollend verzog er sich in die USA, wo er weiterhin als “angesehener Staatsmann” gehandelt wird. Nunja, wer’s braucht…

Aus seiner Heimatprovinz, wo manche ihn noch mit “Baron” anreden, war ein wenig Wehklagen zu vernehmen, aber das war’s auch schon. Ich betrachtete die Angelegenheit als erledigt.

Und dann, liebe Neelie, holst Du ihn nach Brüssel. Die Netzöffentlichkeit verblüffst Du mit Deiner Einschätzung dieses frisch entgelten Menschen. “Talentiert” sei er. Wohl wahr. Hochtalentierte Blender wie er sind selten. “Zwei Ministerien” habe er geführt. Auch richtig — und in beiden Häusern war das Aufatmen unüberhörbar, als er wieder weg war. Frag ruhig mal seine Nachfolger, wohin er eigentlich “führte”.

Wo Praktika in Zeitungsredaktionen (ohne recherchierbaren Output) als “berufliche Stationen in Frankfurt und New York” verlebenslauft werden, wo das Verwalten eigenen Vermögens zu “Verantwortung in der freien Wirtschaft” mutiert, wo nach Jahren der Schaumschlägerei den Chronisten nichts, aber auch garnichts vorliegt, was auch nur den Anschein erweckt, archivierungswürdig zu sein, da kann doch was nicht stimmen? Wie bitte…? Nein, ich meine selbstverfasste Texte, bitte oberhalb des Niveaus von Talkshows, und seien sie auch in Afghanistan inszeniert.

Wo genau hast Du die Fähigkeiten bei ihm gefunden, die wir vergeblich suchen?

Was mich aber fassungslos vor dem Bildschirm erstarren liess, war die Aufgabe, die Du, liebe Neelie, ihm zugedacht hast: “Berater der EU-Kommission zur Stützung von Internetaktivisten in autoritären Staaten”.

Bei uns gehörte er zu den Verfechtern von Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren, und nun soll er die EU darin beraten, wie man ebensolche umgeht oder bekämpft, hoffentlich abschafft? Uns Kritiker der Zensursula rückte er öffentlich in die Nähe von Pädophilen, aber jetzt soll er arabischen Bloggern helfen — genauer: helfen können? Das ist stark.

Neelie, bitte verrate es mir: Wie schaffte er es, sogar Dich um den Finger zu wickeln? Wie gelangtest Du zu der Ansicht, dass ausgerechnet dieser Mensch, der sich stets höheren — ach was: allerhöchsten Sphären verbunden fühlt, geeignet sein könnte, sich in die Niederungen der Blogosphäre nicht sehr demokratischer Staaten zu begeben, um genau die Freiheiten der Netizen zu verteidigen, die er in Deutschland bekämpfte?

Ich lerne aus dieser Geschichte: Wer Dich so vereinnahmt, scheint noch viel gefährlicher zu sein, als ich befürchtete. Du sagtest in Deiner trockenen Art: “Ich will keine Heiligen, sondern Talente.” Neelie, Du hast ein Problem: In ihm hast Du keins vom beidem bekommen. Aus dem Netz kam prompt der Witz vom Papst als EU-Sexualberater. Nunja, so weit würde ich nicht gehen — aber immerhin, der wird wenigstens von einigen Menschen als heilig angesehen.

Ich schlage Dir einen Kompromiss vor: Wenn Du ihn wirklich so toll findest, dann behalte ihn bitte auf ewig. Lass ihn auf Tagungen seine Sprechblasen aus unbekannter Quelle absondern, postiere ihn auf Pressekonferenzen neben Dir, stelle ihn dekorativ auf Sektempfängen auf. Sowas kann er, keine Frage. Sorge dafür, dass er kein Unheil anrichten kann, sich aber trotzdem wichtig fühlen darf. In solch einem Biotop fühlt er sich wohl. Aber pass auf, dass er Dir nicht die Show stiehlt!

Ja, ich weiss, wir Steuerzahler zahlen jetzt seine Reisekosten. Egal, sowas ist ein preiswertes Endlager. Das halten wir aus.

Liebe Neelie, wenn Du Deine ehemals zielsichere Menschenkenntnis wiedergefunden hast, widerstehe bitte einem Reflex: Schicke ihn bitte nicht zurück. Wir brauchen ihn nicht.

Es grüsst
Rainer, Dein treuer Fan.
Noch.

PS.: Sag mal, was willst Du eigentlich bei den “Bilderbergern”? Hast Du das wirklich nötig? Wurde da vielleicht schon die weitere Karriere Deines neuen “Beraters” abgesprochen? Sollst Du ihn da auch noch einführen?

“Wikipedia? Ist doch irrelevant…”

September 19th, 2010

Wikipedianier, Ihr habt es geschafft: Die OpenRheinRuhr ist als irrelevant gelöscht, die FrosCon nur noch eine Fussnote im Artikel über die gastgebende Hochschule.

Ihr begründet dies mit “Relevanz” – definiert und niedergelegt in den “Relevanzkriterien“. Es handelt sich um eine handliche, übersichtliche Seite mit schnell quergelesenen 74 kB reinen Textes. Das gesamte Regelwerk der englischsprachigen Wikipedia braucht weniger. Es erinnert mich daran, dass ca. 80% der weltweit verlegten Steuerfachliteratur in deutscher Sprache gedruckt wird.

Jeder Versuch, alle Imponderabilien der Welt in eine Form zu giessen, die Artikel nach “Relevanz” filtert, muss darin enden, dass das Formular schon zum Zeitpunkt der Publikation veraltet ist. Das ist Deutsche Bürokratie in höchster Vollendung.

Ist ein Artikel erst publiziert, wird Relevanz individuell begründet – durch den Leser, nicht mehr durch den Autor, schon gar nicht durch Löschadmins. Michael Stehmann: “Relevanz entsteht im Hirn des Lesers”. Relevanz ist weder messbar noch fassbar. Relevanz, wie sie von der deutschsprachigen Wikipedia als Ausschlusskriterium herangezogen wird, ist kein rationales Kriterium. Nebenbei sind diese Regeln damals als Liste von Einschlusskriterien konzipiert worden. Es sind “Relevanzkriterien”, nicht “Irrelevanzkriterien”.

Sabine Engelhardt: “Auch das, was für eine Randgruppe relevant ist, ist relevant. Wissen, das nur drei Leute interessiert, stört den Rest ja nicht.”

Karsten Gerloff: “Relevanz wird erst relevant, wenn Plattenplatz zu teuer wird.”

Deutsche Bürokratie bedeutet aber auch, ein Regelwerk in endlicher Zeit derartig komplex werden zu lassen, dass man nicht nur jede beliebige Aktion damit sowohl verhindern als auch unterstützen kann, sondern im Zweifel auch jedes Individuum von irgendetwas ausschliessen kann. Es steht nicht mehr der Sinn der Regeln, sondern nur noch die Form im Vordergrund. Ihr, liebste Wikipedianer, habt diesen Status erreicht. Ihr möget bitte nicht über mangelnde Autorenschaft klagen.

Eure Prinzipienreiterei führt zu solch herrlichen logischen Knoten wie der Tatsache, dass die Neutralität des Artikels über neutrale Standpunkte (wikipedistisch “NPOV”) umstritten ist (Ganz unten auf der Seite, Stand 2010-09-19).

Ihr argumentiert, ohne Relevanzbibel sei keine Qualität zu gewährleisten. Man möge lange diskutieren, welches Qualitätsniveau ein kollaboratives Online-Lexikon überhaupt erreichen kann und soll. Wichtiger ist, dass Qualität und Relevanz völlig unterschiedliche Aspekte sind. Hochqualitative Artikel, die alle anderen formalen Kriterien erfüllen, können hoffnungslos irrelevant sein. Umgekehrt gibt es reichlich schlechte Artikel, die formal korrekt und relevant sind.

Beispiele:

  • Urgesteine der Wikipedia wie Kurt Jansson sind irrelevant, weil der Trägerverein, dem er vorsteht, nur 500 Mitglieder hat.
  • Bauchnabelfussel dürfen ungestört ihr fröhliches Dasein in der Wikipedia geniessen.
  • An Veranstaltungen wie FroScon und OpenRheinRuhr, in der Praxis unbestritten relevant, werden die Kriterien von Grossmessen kommerzieller Messeverantalter angelegt. Die Qualität der Artikel wird zur Nebensache.
  • Mir gelingt es seit Jahren, zu Testzwecken einen praktisch hoffnungslos irrelevanten, formal 120% korrekten und relevanten Artikel zu pflegen. Seit der Einführung der “ungesichteten Änderungen” werden Änderungen nach einer gewissen Zeit übernommen, nur bei einer um den Faktor 3 falschen Zahl wird meine Korrektur nicht übernommen. Die Überprüfung der Zahl gelänge jedem, der eine Suchmaschine bedienen kann. Sie ist unzweifelhaft. (Nein. Ich verlinke den Artikel nicht. Warum wohl?)

Dienten die Relevanzkriterien wirklich der Qualität, müsste man Artikeln “Zeit zum Reifen” geben. Man könnte sie als unausgereift kennzeichnen. Man könnte so vieles machen. Vorschläge finden sich im WWW reichlich. Aber im Akkord löschen…? Michael Stehmann: “Löschen ist Bücherverbrennen im Internetzeitalter.”

Gelöschte Artikel lassen sich nicht mehr verbessern – nur noch neuschreiben. Aber doch nicht für den virtuellen Papierkorb? Mir wurde schon ein Artikel gelöscht, während ich noch nach weiteren Quellen suchte. Es war mein letzter neuer Artikel bei der deutschsprachigen Wikipedia. Seitdem bevorzuge ich die englische Version. Ich will die wenige Zeit, die ich zum Schreiben noch habe, nicht im formalistischen Irrgarten eines Vereins verbringen, der mir inzwischen erheblich zu Deutsch geworden ist.

Die vandalierenden Lösch-Admins haben einen “BILD-Zeitungs-Effekt” erzielt: Die Seite “Löschdiskussion” hat enormen Leserzulauf bekommen. Relevanter wurde sie dadurch nicht.

Einerseits meldet Ihr, dass Ihr immer weniger Autoren habt, andererseits ekelt Ihr sie weg. Selbst wenn Ihr mit all Euren Begründungen Recht haben solltet, es hilft Euch nix: Ihr sitzt in einer selbstgebastelten Abwärts-Spirale.

Warten wir ab, ob die oben genannten Veranstalter weiterhin so freundlich sind, der Wikimedia Foundation Platz für ihren Messestand zu gewähren. Bei mir bekämen sie ihn. Ganz hinten, beim Klo. Es sage niemand, das sei nicht relevant!