Liebe Neelie
Tuesday, January 3rd, 2012Ich muss gestehen, dass ich seit Jahren ein Fan von Dir bin. Selten ist es jemandem gelungen, sich in der Brüsseler Schlangengrube bis auf den Posten eines Kommissars durchzuwühlen, ohne sein Rückgrat zu verbiegen.
Staunend beobachtete ich, wie die niederländische Auffassung von Freiheit und Bürgerrechten — in bester Tradition eines Erasmus von Rotterdam — den respektlosen Kampf gegen Bürokratie und Lobbyismus aufnahm. Du nahmst “Verbraucherschutz” wörtlich. Bei uns bedeutet es eher, die Firmen vor den Verbrauchern zu schützen.
Der Mobilfunkbranche deckeltest Du die freche Gewinnmaximierung bei internationalen Telefonaten, beim Datenverkehr willst Du gerade Gleiches tun. Deine hervorragende Rede zum Urheberrecht neulich wurde von der Politik ignoriert, fand aber im Netz grosse Beachtung und Zustimmung.
In den Niederungen deutscher Klientelpolitik und ihrer beratungsresistenten Funktionäre gelang es uns Netzbürgern immerhin, kräftig beim scheibchenweise inszenierten Abgang eines Paradebeispiels von Blendertum und Lügerei nachzuhelfen. Das erwischte Subjekt drehte und wandte sich, inszenierte sich im Parlament als überfordertes Opfer und spielte grosses Kino vor laufenden Kameras — es half nichts, er musste gehen. Vorher war noch der Doktorhut an der Garderobe abzugeben.
Schmollend verzog er sich in die USA, wo er weiterhin als “angesehener Staatsmann” gehandelt wird. Nunja, wer’s braucht…
Aus seiner Heimatprovinz, wo manche ihn noch mit “Baron” anreden, war ein wenig Wehklagen zu vernehmen, aber das war’s auch schon. Ich betrachtete die Angelegenheit als erledigt.
Und dann, liebe Neelie, holst Du ihn nach Brüssel. Die Netzöffentlichkeit verblüffst Du mit Deiner Einschätzung dieses frisch entgelten Menschen. “Talentiert” sei er. Wohl wahr. Hochtalentierte Blender wie er sind selten. “Zwei Ministerien” habe er geführt. Auch richtig — und in beiden Häusern war das Aufatmen unüberhörbar, als er wieder weg war. Frag ruhig mal seine Nachfolger, wohin er eigentlich “führte”.
Wo Praktika in Zeitungsredaktionen (ohne recherchierbaren Output) als “berufliche Stationen in Frankfurt und New York” verlebenslauft werden, wo das Verwalten eigenen Vermögens zu “Verantwortung in der freien Wirtschaft” mutiert, wo nach Jahren der Schaumschlägerei den Chronisten nichts, aber auch garnichts vorliegt, was auch nur den Anschein erweckt, archivierungswürdig zu sein, da kann doch was nicht stimmen? Wie bitte…? Nein, ich meine selbstverfasste Texte, bitte oberhalb des Niveaus von Talkshows, und seien sie auch in Afghanistan inszeniert.
Wo genau hast Du die Fähigkeiten bei ihm gefunden, die wir vergeblich suchen?
Was mich aber fassungslos vor dem Bildschirm erstarren liess, war die Aufgabe, die Du, liebe Neelie, ihm zugedacht hast: “Berater der EU-Kommission zur Stützung von Internetaktivisten in autoritären Staaten”.
Bei uns gehörte er zu den Verfechtern von Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren, und nun soll er die EU darin beraten, wie man ebensolche umgeht oder bekämpft, hoffentlich abschafft? Uns Kritiker der Zensursula rückte er öffentlich in die Nähe von Pädophilen, aber jetzt soll er arabischen Bloggern helfen — genauer: helfen können? Das ist stark.
Neelie, bitte verrate es mir: Wie schaffte er es, sogar Dich um den Finger zu wickeln? Wie gelangtest Du zu der Ansicht, dass ausgerechnet dieser Mensch, der sich stets höheren — ach was: allerhöchsten Sphären verbunden fühlt, geeignet sein könnte, sich in die Niederungen der Blogosphäre nicht sehr demokratischer Staaten zu begeben, um genau die Freiheiten der Netizen zu verteidigen, die er in Deutschland bekämpfte?
Ich lerne aus dieser Geschichte: Wer Dich so vereinnahmt, scheint noch viel gefährlicher zu sein, als ich befürchtete. Du sagtest in Deiner trockenen Art: “Ich will keine Heiligen, sondern Talente.” Neelie, Du hast ein Problem: In ihm hast Du keins vom beidem bekommen. Aus dem Netz kam prompt der Witz vom Papst als EU-Sexualberater. Nunja, so weit würde ich nicht gehen — aber immerhin, der wird wenigstens von einigen Menschen als heilig angesehen.
Ich schlage Dir einen Kompromiss vor: Wenn Du ihn wirklich so toll findest, dann behalte ihn bitte auf ewig. Lass ihn auf Tagungen seine Sprechblasen aus unbekannter Quelle absondern, postiere ihn auf Pressekonferenzen neben Dir, stelle ihn dekorativ auf Sektempfängen auf. Sowas kann er, keine Frage. Sorge dafür, dass er kein Unheil anrichten kann, sich aber trotzdem wichtig fühlen darf. In solch einem Biotop fühlt er sich wohl. Aber pass auf, dass er Dir nicht die Show stiehlt!
Ja, ich weiss, wir Steuerzahler zahlen jetzt seine Reisekosten. Egal, sowas ist ein preiswertes Endlager. Das halten wir aus.
Liebe Neelie, wenn Du Deine ehemals zielsichere Menschenkenntnis wiedergefunden hast, widerstehe bitte einem Reflex: Schicke ihn bitte nicht zurück. Wir brauchen ihn nicht.
Es grüsst
Rainer, Dein treuer Fan.
Noch.
PS.: Sag mal, was willst Du eigentlich bei den “Bilderbergern”? Hast Du das wirklich nötig? Wurde da vielleicht schon die weitere Karriere Deines neuen “Beraters” abgesprochen? Sollst Du ihn da auch noch einführen?