Kompetenz versus “Digitale Demenz”
Sunday, August 5th, 2012Ein bedeckter Sommersonntag. Eigentlich ein Tag, der gemütlich und ohne Zwischenfälle vorbeifliessen sollte.
Da holt WDR2 den Ulmer Psychiater Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer vors Mikrofon. Selbiger nutzt die Gelegenheit, das Credo seines neuesten Buches wiederzukäuen: “Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen”.
Unbestritten ist, dass die ausschliessliche Nutzung eines Navigationsgerätes zur Orientierung die Fähigkeit, Karten lesen zu können oder sich wenigstens grob nach der Sonne zu orientieren, verkümmern lässt. Natürlich sollten Eltern eingreifen, wenn Kinder zu viel am Rechner spielen.
Daraus destilliert Spitzer das medientaugliche Schlagwort der “digitalen Demenz”. Aus der Tatsache, dass all die netten Geräte, die wir heute benutzen, uns auf vielen Ebenen die Arbeit erleichtern sollen, schliesst er verkürzt, dass wir die Fähigkeit dazu verlören, diese Arbeit selbst zu verrichten. Mehr noch: “Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. (…) Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert.” (Quelle: Klappentext bei einem Buchhändler im WWW)
Spitzer warnt vor “Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängsten und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialem Abstieg”. Darunter macht er es nicht. Als Konsequenz empfiehlt er “Konsumbeschränkung”.
Nun warnt Spitzer schon seit Jahren vor allen Arten von Bildschirmen. Seine Werkliste wächst mit den Verkaufszahlen, die Preise auch.
Viele der geschilderten Symptome und ihre Folgen sind erforscht und publiziert. Das ist nichts Neues. Es erinnert an das Geschrei zur Einführung des Fernsehens. Auch hier wurde, speziell für Kinder und Jugendliche, der Untergang des Abendlandes prophezeit.
Spitzer lässt jedoch völlig ausser Acht, das jedes Werkzeug nur bei bestimmungsgemässer Bedienung seine Funktion erfüllen kann – mehr noch: Je technischer das Werkzeug, desto mehr ist der Nutzer auf die Schulung in seiner Bedienung angewiesen.
Als Schlüsselerlebnis zur fachgerechten Bedienung eines Hammers mag ein blauer Daumen reichen. Die Entfaltung der Kraft eines Autos auf der Autobahn ist ohne Führerschein nicht zu empfehlen. Zur Verabreichung von Sedativa in einer Psychiatrie wird schon mehr verlangt – ungefähr das, was Spitzer seinem Namen voranstellt.
Nun leben wir alle in der seltsamen Situation, dass einerseits Computer die komplexesten Geräte darstellen, die in der Geschichte der Menschheit produziert und an Privathaushalte verkauft werden, andererseits stellen die meisten Menschen den Anspruch, dass die Bedienung dieser Computer nicht komplizierter sein darf als die einer Kaffeemaschine.
Noch witziger: Genau die Dinge, die ein Computer wunderbar automatisieren könnte, werden gerne Klick für Klick von Hand erledigt (216 Urlaubsfotos bearbeiten und hochladen – wohin auch immer), andererseits wird exakt das, wofür menschliche Intelligenz eingesetzt werden sollte, automatisiert (“Kann ich das anklicken oder ist das gefährlich?”). Nunja, es wird versucht, zu automatisieren. Man kauft einen gelben Pappkarton voll Sicherheit für ein paar €…
Die seit Bestehen der Menschheit üblichen Multiplikatoren zur Vermittlung neuer Technik (Eltern, Lehrer, Handwerksmeister, Dozenten, etc.) versagen immer noch fast vollständig, wenn sie mit Dingen wie “Internet” oder “Computer” konfrontiert werden. Besonders Politiker blamieren sich gerne systematisch, wollen aber die Rahmenbedingungen diktieren. Was dabei rauskommt, ist vermutlich in Spitzers Sinne.
Hätte sich Spitzer auf dieser Ebene kluge Gedanken gemacht, läge die Empfehlung, sein Buch zu lesen, nahe. Er verzichtet darauf. Schlimmer: Er reduziert die Nutzung des Computers auf “Google, Facebook und Co”.
Wenn Spitzer zu diesem komplexen Problem nicht mehr einfällt als die Empfehlung zur quantitativen Beschränkung des Symptoms, bleibt nur zu hoffen, dass seine Dissertationen und seine Habilitation eine bessere Qualität aufweisen.
Was wir brauchen, ist die Vermittlung von Kompetenz durch kompetente Multiplikatoren. Kinder ahmen Erwachsene nach. Wenn sich für die Eltern die Nutzung des Internets auf 140-Zeichen-Nachrichten beschränkt, werden die Kinder von ihnen nicht der Fertigkeit zur Exegese erlernen.
Wo sich die (Volkshoch-)Schule auf Produktschulungen im Sinne des Marktführers beschränkt, wird nicht vermittelt werden können, was eine Tabellenkalkulation eigentlich ist und wie sie arbeitet.
Wer nicht merkt, was auf seinem Rechner passiert, und was er schon in die “Cloud” ausgelagert hat, wird nie verstehen, was Datenhaltung ist.
Wer an der Universität nur die Spitzersche Rezeption von Facebook hört, wird nie verstehen, dass das Internet mehr ist als das WWW.
Wer, wie Spitzer, die Nutzung des Netzes auf “Konsum” reduziert, wird nie lernen, dass im Netz die Grenzen zwischen “Konsum” und “Produktion” verschwimmen.
Wem als Kaufkriterium für digitale Geräte Design und angebissenes Obst wichtig sind, kann jungen Menschen niemals den Unterschied zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung erklären. Michael Stehmann formuliert drastischer: “Lerne programmieren oder werde programmiert.”
(Nebenbei: Wenn ich Google bemühen muss, um Michaels Blog hier zu finden, haben ganz andere Leute etwas ganz Anderes nicht verstanden. Nein, das interne Suchmaschinchen kennt ihn nicht.)
Wenn Eltern und Lehrer den falschen Eindruck, den die bunte Werbung der Mobilfunker vermittelt, man könne mit ihren Geräten und Tarifen ganz toll diesen und jenen Dienst nutzen (aber von mehr ist nie die Rede), nicht korrigieren können, dann dürfen sie nicht beschweren, dass die Kinder auch nur diese Dienste nutzen.
Solange die Kinder den Eltern “das Internet” zeigen, solange der zum Informatik-Unterricht verurteilte Lehrer seine Aufgabe dem begabtesten Schüler überlässt, dreht sich die Welt falschherum.
All dies und noch viel mehr ist Kindern vermittelbar, wenn man dies denn wollte. Ja, am Computer. Wichtiger ist, dass es endlich vermittelt werden muss. Sonst könnte Spitzer mit seinen Weltuntergangsszenarien Recht bekommen. Wir haben beim Medium Fernsehen gesehen, was passiert, wenn die Vermittlung von Medienkompetenz vernachlaessigt wird.
Dazu brauchen wir fähige Politiker und Lehrende. Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer brauchen wir nicht. Wer seinen populistischen Thesen zustimmt, steht erst am Anfang eines Lernprozesses. Er wird sich auf ewig mit Symptomen beschäftigen, aber die Ursachen nie verstehen.
Wem zum Thema Computer und Internet nicht mehr einfällt als “Wo muss ich jetzt klicken?”, dem werden Spitzers Bücher gut gefallen.
Da Spitzer nicht zum ersten Mal mit solchen Plattitüden auffällt, seien dem geneigten Leser einige Kritiken seines populistischen Wirkens empfohlen: