Liebe Mitdeutsche,
eigentlich mag ich euch ja sehr gerne. Ich bin — verkürzend zusammengefasst — sehr dankbar, dass ich mit euch in einem demokratischen Rechts- und Sozialstaat leben darf, in dem Meinungs- und Pressefreiheit und seit langem vor meiner Geburt Frieden herrscht; in einem Land, in dem es freie, gleiche und geheime Wahlen gibt; einem Land, dem es — verhältnismäßig gesehen — insgesamt wirtschaftlich sehr gut geht und in dem mir ein sicherer Arbeitsplatz geboten wird.
Aber letzten Sonntag hatte ich es zugegebenermaßen schwer mit euch,
- als ihr durch die Abstrafung der Grünen und vor allem der Piraten, aber auch der möglicherweise vernichtend getroffenen FDP, zum Ausdruck gebracht habt, dass es euch mehrheitlich schlicht und ergreifend egal ist, dass von amerikanischen und britischen Geheimdiensten genau das gemacht wird, was bis vor kurzem zwar theoretisch-technisch möglich schien, aber den meisten als reichlich unwahrscheinlich galt: Die verdachtslose und umfassende Totalüberwachung der gesamten Bevölkerung an jeder Stelle, an der es auch nur irgend technisch machbar ist;
- als ihr fast einem Parteienbündnis die absolute Merheit gegeben habt,
- dessen Kanzleramtsminister diese NSA-Affäre einfach für beendet erklärt;
- das diese massenhafte Grundrechtsverletzungen aller Bürgerinnen und Bürger schlichtweg bestreitet: Angela Merkel hat ihrem Kanzleramtschef Roland Pofalla wider besseres Wissen mehrfach den Rücken gestärkt, am klarsten wurde die Haltung der Union dazu jedoch in der Berliner Runde von der CSU-Landesgruppen-Chefin Gerda Hasselfeldt formuliert, in der sie dreist behauptete, der Vorwurf der millionfachen personenbezogenen Ausspähung deutscher Bürgerkommunikation sei widerlegt;
- dessen Kanzlerkandidatin sich im 21. Jahrhundert mit der Aufhebung der Diskriminierung von Lesben und Schwulen »schwer tut«, ohne dies im mindesten begründen zu können;
- dessen Kanzlerkandidatin bei ihrem riskanten Schlingersparkurs in der Eurorettung unterschlägt, dass diese massive Staatverschuldung der Länder der Eurozone maßgeblich auch dadurch bedingt ist, dass die europäischen Staaten in der Finanzkrise ab 2007 den Banken Milliarden an Steuergeldern hinterhergeworfen haben;
- dessen Kanzlerkandidatin mit ihrer falschen Eurorettungsstrategie die südeuropäischen Länder immer tiefer in die Armut spart, Öl in das Feuer der Spaltung Europas gießt und Deutschland in Europa immer unbeliebter macht;
- dessen Kanzlerkandidatin in ein- und derselben Legislaturperiode den Ausstieg aus dem Atomausstieg veranlasst und nur wenige Monate später wegen einem Erdbeeben am anderen Ende der Welt den Ausstieg aus dem Austieg aus dem Atomausstieg auf den Weg bringt — als sei das Grundrisiko der Atomenergie nicht schon seit Jahrzehnten bekannt;
- dessen royale Kanzlerin (»Sie kennen mich«) inzwischen jegliche Bereitschaft vermissen lässt, visionär und mutig zu gestalten und klar Position zu beziehen, vielmehr bei hellichtem Tage auf Kurzsicht fährt. Ja, vielleicht fehlt ihr nach vier Jahren großer Koaltion und weiteren vier Jahren Schwarz-gelb mittlerweile tatsächlich selbst eine eigene politische Position, ein politischer Kompass — man erinnere sich daran, dass Angela Merkel zur Bundestagswahl 2005 noch mit einem marktradikalen Programm angetreten ist (Kirchhofs Flat Tax statt progressiver Einkommensbesteuerung, Kopfpauschale,…);
- welches die Krise der deutschen/europäischen Solarindustrie (ein zukunftsweisender Industriezweig, in dem Deutschland dank des dem Erneuerbare-Energien-Gesetz der rot-grünen Bundesregierung einst führend war) einerseits durch seine Solarkürzungen mit befeuert hat, und andererseits den von der chinesischen Regierung subventionierten Dumpingangriffen der chinesischen Solarindustrie tatenlos zugesehen hat;
- dessen Programm quasi nur aus Angela Merkel bestand und aus Wahlkampfgeschenken, von denen nicht dargelegt wurde, wie sie finanziert werden sollen — und das von denen, die sich immer als die guten, soliden Haushalter brüsten.
Ich hatte es schwer mit euch,
- weil ihr mit den Grünen und den Piraten Parteien abgestraft habt, die Basisdemokratie leben (Beipiele im grünen Wahlkampf: Urwahl und grüner Mitgliederentscheid), und die ihr Programm auf Parteitagen sowie in vielen ausführlichen Online- und Offline-Diskussionen basisdemokratisch entwickelt, verfeinert und austariert haben;
- weil es 4.7% unter euch gibt, die eine rechtspopulistische und rückwärtsgewandte Partei fast in den Bundestag gewählt haben;
- weil ihr mehrheitlich der schwarzgelben Propaganda auf den Leim gegangen seid, die euch ein grünes Steuerprogramm als mittelstandsfeindlich und links verkaufen wollte, das nachweislich 90% von euch entlasten, hingegen nur 10% der reichsten Deutschen belasten würde, und das vor allem die Grundlage eines durchgerechneten und gegenfinanzierten Wahlprogramms war;
- weil ihr zwar eine Gurkentruppe — wohl wegen ihrer hohlen marktliberalen Wirtschaftsphrasen und ihrer dreisten Lobbypolitik — abgewatscht habt, nicht aber eine Wildsau mit ihrem plumpen Bayern-Populismus: Autobahnmaut für Ausländer, Betreuungsgeld, »Sie können das alles senden«, Missbrauch des Pädophilie-Themas zu Wahlkampfzwecken und Sondierverhandlungen,…;
- weil ihr — in dem ihr den Piraten und der FDP den Einzug in den Bundestag verwehrt und Linken und Grünen deutlich Stimmen entzogen habt — genau die Parteien massiv geschwächt habt, die für Bürgerrechte und eine progressive Netzpolitik stehen, die in diesem Land so dringend benötigt werden.
Eine Woche nach der Wahl kann ich mich heute aber zumindest darüber freuen, dass ihr dieser Union keine absolute Mehrheit gegeben habt, sondern eine Mehrheit im deutschen Bundestag geschaffen habt,
- die eine Vermögensabgabe und -Steuer etablieren möchte, um einerseits die neben den Banken größten Profiteure der Finanzkrise stärker an ihren Kosten zu beteiligen und um andererseits der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich entgegenzuwirken. Eine derart ungleiche Verteilung des Vermögens ist übrigens nicht nur sozial ungerecht, sondern auch volkswirtschaftlich schädlich.
Mit der Einführung einer Vermögensabgabe und einer Vermögenssteuer würde Deutschland in Europa guten Beispiels voran gehen: In anderen europäischen Staaten ist das Problem öffentlicher Finanznot und privaten Reichtums noch sehr viel dringlicher. Eine solche maßvolle Umverteilung könnte den Ausgangspunkt für eine Kehrtwende in Richtung einer gerechteren und zielführenderen Eurorettungsstrategie bilden, die nicht auf bloßes Sparen, sondern Wachstum in Europa setzt;
- die für einen gesetzlichen Mindestlohn ist;
- die für eine Bürgerversicherung ist;
- die Steuergerechtigkeit befürwortet;
- die für eine moderne Integrationspolitik steht (doppelte Staatsbürgerschaft, kommunales Wahlrecht für Ausländer,…) — schon aus rein eigennützigen Gründen gewiss kein unwichtiges Thema für ein immer mehr überalterndes Land wie Deutschland, das Zuwanderung von jungen und gut ausgebildeten Menschen dringend nötig hat;
- die mit Überzeugung dafür ist, am Atomausstieg festzuhalten und die Energiewende ungebremst und zielführend anzugehen;
- in der es mit den Stimmen von den Linken und Grünen in Kombination mit einer Minderheit in der SPD eine starke Stimme für Bürgerrechte und eine progressive Netzpolitik gibt; und
- die sich für eine starke Förderung Freier Software ausspricht, vor allem aber befürwortet, dass von öffentlicher Hand beauftragte und finanzierte Software als Freie Software veröffentlicht wird: In Zeiten von PRISM und Tempora gewiss kein unwichtiges Thema!
Wie es momentan aussieht, werden sich diese Mehrheiten allerdings leider nicht nutzbar machen lassen. Wieder hat vor der Wahl Ausschließeritis den Ton bestimmt. Wie auch immer nun die Koalitionsverhandlungen ausgehen, sollte man in den nächsten Jahren aber nicht vergessen: In einem Dreierbündnis der SPD mit zwei bürgerrechtsfreundlicheren Parteien wie den Grünen, Piraten, Linken oder der FDP ließen sich gegenüber den Law-and-Order-Kräften in der SPD Bürgerrechte besser verteidigen, und eine progressive Netzpolitik wäre denkbar.
Auf jeden Fall möchte ich zum Abschluss aber noch einmal deutlich machen, dass der Wählerwille bei diesem Wahlergebnis unmissverständlicher und logisch stringenter formuliert wurde als jemals zuvor: Der Wähler wünscht sich eine Rot-rot-grüne Koalition unter der Führung von Dr. Angela Merkel!